Systemisches Denken und die Mär von der Planbarkeit

13.11.2012

Eine Vermutung, einmal so hingerotzt: Jeder Plan ist prinzipiell und immer zum Scheitern verurteilt. Warum? Ganz einfach: Es handelt sich dabei um einen linearen Ablauf mit monokausalen Wirkmustern. Je starrer, desto sicherer das Scheitern.

Ein Stratege hat einmal gesagt, dass der klügste Feldherr nicht an der Klugheit des Feindes scheitert, sondern an dessen Dummheit, die er nicht nachvollziehen und also auch nicht einberechnen kann. Weil der Eine in einer vom Anderen unterschiedlichen Welt lebt, misslingt der Plan. Und: nein, der Andere ist nicht dumm. Er ist anders und handelt folglich so, wie es seiner eigenen Klugheit entspricht, gleich, wie dumm jemand anderem das erscheinen mag. Tröstlich ist nur, dass die Annahme der Dummheit auf Gegenseitigkeit beruht.

Das ist der Kernpunkt Systemischen Denkens – die Annahme, dass wir mit der Welt um uns herum verzahnt sind wie eine Art Getriebe. Wie eine Art Getriebe jedoch, das keinen Regeln trivialer Wenn-Dann-Mechanik folgt, sondern einer Art Schöpfergeist, dem nur mit Mitteln der Chaostheorie auf den Leib zu rücken ist. Das Unabwägbare ist es, das Abläufe und Schicksale eines Systems in der (menschlichen) Natur steuert.

Dazu zwei Stichworte: Erstens die Autopoiese, zweitens die Entropie. Jedes System, sei es noch so sehr Sachzwängen verhaftet, strebt nach Selbststeuerung. Der Anspruch einer Lehrkraft, eine autopoietische, also selbststeuernde Schulklasse zu steuern, vermittelst aufgesetzter Regelwerke und unter Zuhilfenahme eines Wissenstrichters Schulwissen in die Kinder einzufüllen, ist zum Scheitern verdammt, notwendiger Weise. Wenn es die Lehrkraft schafft, etwa durch Beispielwirkung zur Neugier anzuregen, dann kommt Leben in die Bude. Dann steuert das System Klasse weitgehend und selbstständig in Richtung Lernziel. Ein Ziel, dass die Kinder dann, und nur dann, mit der Lehrkraft gemeinsam haben.

Die Entropie im Systemischen Kontext besagt vereinfacht, dass jedes System ganz automatisch und von selbst auf einen Zustand maximaler Unordnung hinsteuert. Wer mit Kindern in einem gemeinsamen Haushalt lebt, kennt das Ergebnis. Doch nicht einmal auf die totale Unordnung können wir uns verlassen. Mitunter entstehen so Zustände von beängstigender Ordnung. Die Physik nennt das Resonanzfall, die Nichtphysiker dürfen Zufall sagen. Die Summe des Unwägbaren ergibt auf diese Weise Rotorturbulenzen, die einen schweren Jet umschmeißen und freak waves, die einen Öltanker auf Grund setzen können.

Als der Hund von Pawlow endlich draufkam, dass er nur sabbern musste, um den Typen dazu zu zwingen, ein Glöckchen zu läuten (vergessen wir das mit dem zeitlichen Ursache-Wirkungs-Ablauf und denken einfach an das Doppelspaltexperiment), war das für ihn ein erhebender Moment barocker Machtfülle.

Pläne, die die vollkommene Unberechenbarkeit aller daran unmittelbar und mittelbar Beteiligten außer Acht lassen, können also nichts als scheitern. Fakten, die heute als unumstößlich gesichert gelten, stellen sich morgen als lebensgefährlicher Schwachsinn heraus. Entscheidungen, die gestern getroffen wurden, sind heute verhängnisvoll. Na und? Die Erde hat sich gedreht und wir sind nicht mehr die Selben. Der Plan von gestern taugt heute nicht mehr, kann es nicht, weil er von veralteten Voraussetzungen ausgegangen ist.

Was bleibt, sind Ziele. Das Lernziel des Systems Schulklasse, das Profitziel des Systems Unternehmen, das Liebesziel oder wenigstens Versorgungsziel des Systems Familie. Das Erreichen oder Verfehlen eines systemgemeinsamen Ziels könnte in erster Linie davon abhängen, wie weit Autopoiese gefördert, Neugier geschürt, Respekt vor der Welt des Andern gelebt und Kommunikation gepflegt wird, wieviel Entropie als die Möglichkeiten erweiternder Systemprozess zugelassen wird. Auf diese Weise wird allen Beteiligten Beweglichkeit zugestanden, werden mit vollen Händen Schlüssel und wohl auch genug Generaldietriche verteilt, die garantiert vorkommende Probleme lösen können.

Wir können Eventualitäten nicht vorhersehen, auch nicht, wenn wir so tun als ob. Wir können möglichst entspannt gut mit ihnen leben.

Stefan Peters

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