Der diskrete Charme der Vorstadt. Eine Erkundung.

„Zweite Kassa, bitte!“ „Es gibt kaa zweite Kassa. Und es wird sicher kaa zweite Kassa gebn. I arbeit do, sehns eh, wir’ I ned aa no kassiern.“ Lidl Breitensee. Servicezone.

Wir sind in der Vorstadt. Dort, wo Wien ins Halbländliche ausfranst, wo im Sommer zwischen Katzenkopfpflaster der Löwenzahn wächst und hinter Bretterzäunen die letzten Gstettnbiotope mit Bauträgergesellschaften Versteckerl spielen.

Wir sind dort, wo als dresscode Trainingsanzug angesagt ist. Was trainieren die alle? Am Sonntag in der Früh. Beim Zeitungsfladern. Ist das eine Art Fluchtmontur, für den Fall, dass? Oder ist das bloß der Morgenmantel des kleinen Mannes?

Wien ist nirgendwo wienerischer als in der Vorstadt, dieser Trutzburg gegen urbane Hipness und internationale Shoppingschablonen. Hier verbindet die volksnahe Frau an der Billa-Kasse Geldeintreiberei mit Entertainment.

„Da, hams a Los.“

„Aber…“

„Was is? Ja oder ja? Nehmen’s es, g’hert scho ihnan. Reißen’s es auf oder haun’s es daune. Mir wurscht. Wiederschaun.“ Verhaltene allgemeine Belustigung die Warteschlange entlang.

Die Vorstadt. Das ist eine gewundene Allee von Watschenbäumen. An ihnen zu rütteln ist einfacher als es nicht zu tun. In Zeiten, wo einem selbst auf Ämtern der Eindruck vermittelt wird, Kunde zu sein statt Petent, blühen hier in den Außenposten der Metropole die letzten Wildkräuter solid verwurzelter Obrigkeit. Da herrscht der Wirtn in der Gaststätte zum goldenen Feitl mit einer Machtfülle, die Ludwig den 14. wie einen Demokraten aussehen lässt. Da warten Buschauffeure mit der Abfahrt aus der Station, bis der Finger des Leider-Nein-Fahrgastes nur noch wenige Zentimeter vom Türknopf entfernt ist. Von außen gesehen, versteht sich und vorausgesetzt, die Jahreszeit ist danach.

Ist danach, das heißt: Kalt, feucht, windig, wie es nur in der Vorstadt kalt, feucht, windig sein kann. Dort, wo sich das, was so vom Wienerwald aus dem Westen hereingeblasen wird, an den ersten Häusern bricht und die Menschen, die dort wohnen, abhärtet.

Dort, in der Vorstadt, wo die Milchschokolade ständig ausverkauft ist und nur noch das Edelherbe in den Regalen, dort ist wenig Zeit für Umwege. Dort ist ein Häuslschmäh ein Häuslschmäh und kein einzigartiges Verkaufsargument. Dort herrscht Dralon statt Kaschmir, unten akzentuiert von weißen Tennissocken im braunen Schlüpfer, oben vom massiven Goldketterl im wuchernden Brusthaar.

Vorstadt, das ist auch der alte Mann im kackbraunen Schwarzkapplermantel, auf dem Kopf ein ins Formlose zerfließendes Ungetüm von schwarzer Wollhaube, vornüber gebeugt und hinter sich ein Rollwagerl herziehend. An einer Ecke bleibt er stehen, nimmt die vis à vis gelegene Pharmazie ins Visier. Anklagend erhebt er die Faust, deklamiert „Wann I siech a Apothekn, muass I aa so verreckn!“ Als ich ihm im Vorübergehen freundlich zunicke, reißt sich der Emile Zola von Penzing die Haube vom Kopf und wünscht mir ein gutes neues Jahr. Ich erwidere den Gruß und strebe dem Fluss zu, der die Bezirke trennt. Und die Lebenswelten.

Drüben, auf der anderen Seite, im Dreizehnten, tritt der Kaffeehausober an meinen Tisch: „Noch a Melange, Herr Doktor?“ Woanders promovieren sie am Standesamt, hier reicht es aus, ein Buch richtigherum in der Hand halten zu können. Aber das ist auch nicht mehr Vorstadt. Das ist Cottege. Genauso weit draußen. Aber nicht aus Not, sondern aus Justament.

Die Vorstadt, das ist eine Zeitreise mit der Vorortelinie, dem ungeliebten Stiefkind der Verkehrsbetriebe. Eine Gebirgsbahn übrigens, offiziell, wer’s wissen will. Gemeinsam mit den Stadtbahnen gebaut, in Teilen dann wieder abgerissen. Irgendwann einmal wiederbelebt, klappert sie heute die entrischen Gründe ab. Die durchmischten, durchwachsenen Ränder zwischen sehr fein und sehr unfein, zwischen Penzing und Döbling und niemals das Zentrum auch nur streifend.

In Ottakring, an sich ein prädestinierter Austragungsort für die nächste Gnackwatschenolympiade, sitze ich mit meinem Kind auf dem Schoß in einem der rar gewordenen Vorstadtkaffeehäuser. Einem der Wenigen, das noch nicht eine Umwidmung im Dienste der Glücksspielindustrie erfahren hat. Das Kind zezt an seiner Frittatensuppe. Im Vorbeieilen lässt der Ober eine pädagogische Intervention fallen: „Iss dei Suppn, hearst.“ Und eilt weiter. Schnörkellos. Von Herzen.

Es sind diese und andere Blitzlichter des Suburbanen, die eine ganze Nation in ihren Bann ziehen. Die Deutschen sind’s. Die den „Weana Schmäh“ zwar nicht verstehen, seinen onomatopoetischen Gehalt aber trotzdem zu würdigen wissen. Ein früherer Bekannter von mir verlangte einmal in einem Geschäft eine „Tüte“. Er kam aus der Gegend von Düsseldorf, das Geschäft kam aus der Gegend von Rudolfsheim-Fünfhaus. Eine Viertelstunde später verließ er den Laden, nachdem er von der Verkäuferin gezwungen worden war, das Wort „Sackerl“ zu lernen, andernfalls ihm die Herausgabe einer Tragetasche verweigert worden wäre.

Die Vorstadt, das ist Arrangement mit dem Faktischen, was oftmals auf eine Lektion in Sachen Demut hinausläuft. Das Währinger Nachtcafé beispielsweise, in dem die Kellnerin dringend davon abrät, Kaffee zu ordern. Sie wird schon wissen, warum und meint’s ja nur gut. In Gläsern wird aus hygienischen Gründen nur Hochprozentiges serviert, Bier und Cola kommen in der Flasche. Ich sitze mit einer Freundin zwischen Restposten eines Fortgeh-Abends und höre mir eine fein ziselierte Verschwörungstheorie an. Irgendwas mit EU. Um uns herum eine Klangwolke aus Revolution, Selbstmitleid und Lou Reed. Ein Mann steht auf, erringt mühsam das Gleichgewicht, breitet die Arme aus, brüllt „I kenn ois vom Lou Reed!“ und ergibt sich der Schwerkraft.

Und immer wieder, beim Spazierengehen durch die hügeligen Straßenzüge, in denen sich die Greißlereien und Schneidereien und auch die kleinen Handwerkerbetriebe in den Hinterhöfen längst zum Sterben hingelegt haben – immer wieder passiert etwas sehr Unstädtisches, passiert ein Gespräch mit Fremden.

In Gersthof, dort, wo die Vorortelinie wieder einmal im Tunnel verschwindet, in einer schmalen Gasse gleich neben der Bahn, einer schmalen Gasse, die in eine Treppe mündet, dort grüßen sich die Leute. Grüßen sich wie am Land. Bleiben auf einem Treppenabsatz stehen, wo ein freundlicher Verwaltungsbeamter ein Bankerl aufgestellt hat. Zum Miteinanderreden.

In der Vorstadt, da ist die Zeit verdünnt, verwässert, quasi aufg’spritzt. Und ein G’spritzter – ein G’spritzter geht immer noch.

Stefan Peters

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