Was ist vernünftig? Sind Ressourcenschonung und Suffizienz der Vernunft zugänglich? Welchen Sexappeal hat Vernunft in der Volkswirtschaft? Eine Gegenüberstellung.
Äste und Äpfel
Es ist schon seltsam. Einem Wettstreit der Meinungen steht immer ein Singular der Vernunft gegenüber. Selbst die Wahrheit kann Plural. Von Vernunften hingegen war noch nie die Rede. Eine logisch dargelegte, sauber dokumentierte Evidenzkette gebiert eine einzige, von allen Seiten anerkannt vernünftige Aussage. Da braucht’s keine alternativen Wahrheiten, vom Förderband der Trollfabriken in den Social Media-Kanal geplumpst und diesen solcherart in eine stinkende Kloake verwandelnd. Vernünftig ist es, nicht den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Sonst Au! Soweit eine meines Wissens mehrheitsfähige Auffassung der Physik Newton’scher Lesart.
Auch vernünftig, um das Bild umzuformen, muss es wohl sein, attraktive Ziele mit dem geringstnötigen Verbrauch von Ressourcen zu verfolgen. Um bei Newton zu bleiben, ist es vernünftiger, den Ast am Baum zu lassen und darauf zu warten, dass davon ein nahrhafter Apfel abfällt. Ebenfalls vernünftig ist es, zu diesem Zweck zu allererst einen Apfelbaum aufzusuchen. Vernunft allerorten, also.

Individuelle versus kollektive Vernunft
Wie aber kommt es, dass mindestens durchschnittlich vernunftbegabte Menschen ernsthaft politisches Handeln befördern, das geeignet ist, uns alle so schnell wie möglich von einer der Menschheit nützenden Umwelt zu befreien? Wie kommt es, dass Menschen, die durch das grenzenlose Hamstern von Ressourcen andere Menschen in Not stürzen, dass also solche Personen als nützliche Mitglieder der Gesellschaft betrachtet werden? Wie kommt es, um auch einmal den Sinn fürs Schöne hereinzubringen, dass jemand, der zwanzig alte Autos besitzt, nicht als geisteskrank taxiert, sondern als Sammler geschätzt wird? Möglicher Weise tobt hier ein heißer Wettstreit von individueller versus kollektiver Vernunft. Soll heißen, individuelle Maximierung von allem, was angehäuft werden kann, gegen kollektive Maximierung von allem, was dem Gemeinwohl dient. Ja, das ist ideologisch, frage nicht! Und es gilt auf den ersten Blick das Highlander-Prinzip: Es kann nur einen geben, oder eigentlich eine. Eine Vernunft, nämlich. Klarer Fall von Klassenkampf, meilenweit abseits jeder Vernunft. Weil die sich nicht prügeln muss, um recht zu bekommen.
Ökosoziale Marktwirtschaft
Vor knapp vierzig Jahren propagierte der österreichische Landwirtschaftsminister Josef Riegler die Einführung der Ökosozialen Marktwirtschaft. Eine Promenadenmischung war es, die den marktwirtschaftlichen Kriterien der reinen kapitalistischen Lehre ökologische und soziale Prinzipien zur Seite stellte. Die Idee, durchaus vernünftig argumentierbar, war, alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen sozialpartnerschaftlich und umweltschonend zu gestalten. Als Gewinn lockten sozialer Friede und eine intakte Umwelt, schon damals keine Lappalie. Josef Riegler war übrigens kein grünbewegter Graswurzelsepp, sondern durchaus visionärer Chef der ÖVP und Vizekanzler, politisches Schwergewicht. Woran es ihm mangelte, das waren Charisma und Durchsetzungsvermögen. Es gelang ihm nicht so recht, die umwelt- und wirtschaftspolitische Kurskorrektur mit mehrheitsfähigem Sexappeal aufzuladen. So wurden die Prinzipien der ökosozialen Marktwirtschaft erst mit dem Aufkommen der Grünen und – in späteren Jahren – schwarz-grün regierten Bundesländer politisch realisierbar. Was sich beispielsweise darin niederschlägt, dass Österreich heute den EU-weit höchsten Bio-Anteil an der Landwirtschaft hat.
Gegenvernunften
An sich alles vernünftig, lässt sich ohne großen Argumentationsaufwand abnicken. Wieso jetzt aber eine, sagen wir, Gegenvernunft auf den Plan tritt und in einer Mischung antiaufklärerischer Rückwärtsgewandtheit und Hingabe an dystopische Weltverhältnisse die Abkehr dieser dem Gemeinwohl dienenden Prinzipien fordert, das will mir nicht in den Kopf. Da geht es exemplarisch um die Anhebung von Tempolimits und Autobahnneubau, Schutz von extrem hohen Privatvermögen, um Verschlechterungen für ressourcenschonende Energiegewinnung und die Demolierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Grundpfeiler unserer Demokratie. Dass da Interessen dahinterstehen, das lasse ich mir gerne einreden. Hinter einem Raubüberfall stehen ja auch Interessen. Das reicht aber nicht als Staatsdoktrin. Nicht dann, wenn es vernünftige Gründe geben muss, aus denen die Politik in all ihrem Handeln das Gemeinwohl der Menschen in diesem Land vertritt. Das ist keine Fleißaufgabe, sondern bloß der Auftrag in einer repräsentativen Demokratie. Eine Vernunft wäre das, die in sehr vielen demokratisch-mühsamen, aber notwendigen Abwägungen von Kosten, Nutzen, Chancen und Risken einen Mehrwert für alle mit den gelindesten Mitteln erzeugt. Ja, auch das ist Suffizienz, und dass sie top down daherkommen sollte, macht sie bei aller Vernunft um nichts weniger sexy.
Eine andere Vernunft können wir uns sowieso nicht leisten.
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