Die Suffizienz des Reisens II: Fünf Quadratmeter Freiheit

Wie viele Zimmer hat ein VW-Bus? Kennt Fernweh ein Alterslimit? Wie lebt es sich ohne Stehhöhe? Ein Hippieklischee auf dem Prüfstand.

Shrinkflation unterwegs

Remote office. Workation. Roadtrip mit Vanlife. Ein Haufen Neologismen, dazu ein gefühlt exponenziell wachsendes Marktsegment, wenn es ums Reisen geht. Immer mehr Menschen versuchen Broterwerb mit Reisen zu verbinden. Und eine Menge von ihnen sind in Fahrzeugen unterwegs, die sich im Vergleich zu den bekannten Wohnmobilen und Wohnwagengespannen ausnehmen wie ein Shrinkflation-Schokoriegelchen im Supermarktregal. Eine Teilmenge dieser Menge sind meine Gefährtin und ich. Was bedeutet, dass dieser Blogeintrag der bisher persönlichste zu werden verspricht.

Ein VW-Bus ohne alles

Doch der Reihe nach. Vor fünfeinhalb Jahren, es war Anfang März 2020, kauften wir einem serbischen Opa einen alten VW-Bus ab. Der war Modell T4, das hieß, praktisch und alltagstauglich, wenige Diesel-PS, dafür viele Kilometer. Standardausführung ohne jegliche Extras, null Kultfaktor, aber für kleines Geld leistbar (für ganz großes Geld haben wir nicht die passenden Jobs). Die Idee war, damit kreuz und quer durch Europa auf Reisen zu gehen, unabhängig und mit maximaler (Bewegungs-)Freiheit. Eine Woche nach dem Kauf kam der erste Covid-Lockdown und das Reisen konnten wir uns alle feierlich in die Haare schmieren. Im Lauf des Sommers schweißte ich mit einem Freund sinnreich Vierkantrohre zusammen, die wir dann in den Bus schraubten. Das Ergebnis ist eine Konstruktion, mit der sich das Auto in fünf Minuten von einem Fünfsitzer in einen Zweisitzer mit Doppelbett verwandeln lässt.

Ganz Europa im Luxusbett

Nach ein paar Campingausflügen, einer längeren Österreich-Tour und dem Verbasteln einer Photovoltaik-Anlage für die Stromautonomie trauten wir uns – meine Gefährtin, ihr Hund und ich – mit sehr kleinem Gepäck auf sehr große Tour. Soll heißen, dass wir mit minimaler Einrichtung auf gut fünf Quadratmeter Wohnraum in den vergangenen zwei Jahren Europa zwischen Gibraltar im Süden, Lissabon im Westen, dem Baltikum im Osten und dem Nordkap (das übrigens ziemlich weit oben liegt) vermessen haben.

Zwei Menschen sitzen vor einem roten VW-Bus, auf dem in weißer Farbe 16 europäische Länder geschrieben stehen
Der knallrote (Auto-)Bus: Nicht schnell, aber ziemlich weit, das kann er gut, durch 16 europäische Länder

Unser Luxus war und ist das wirklich große Bett, gelegen auf Fensterhöhe, also mit Ausblick in alle Richtungen (die Gefährtin legt Wert auf die Information, dass sie manchmal Kreuzweh hatte). Okay, und seitdem die Drecks-Kühlbox den Geist aufgegeben hat, gibt’s einen Kompressorkühlschrank. Der Rest ist eine Anzahl beschrifteter Euroboxen für Kleidung und Utensilien, eine Box mit Schubladen für Toilettezeugs, eine Campinggarnitur und ein Primuskocher. Fertig.

Von Instaferien und Zähneklappern

Klarerweise braucht’s auf so wenig Raum umso mehr Respekt, Kommunikation, Struktur. Klingt todlangweilig. Ist es wahrscheinlich auch. Hilft aber, lange Expeditionen liebevoll zu durchleben. Das alles ist natürlich einfacher, wenn gerade einmal happy beachlife Instaferien angesagt sind, Urlaub für Poser. Und schwieriger ist es nach einem ganzen Tag Online-Unterricht, wo ich heiser und streichfähig bin.

Aber hey, es geht, und das WLAN gibt mitten in der spanischen Wüste mindestens so viel Bandbreite her wie im 15. Bezirk in Wien. Auch interessant, in Portugal aufzuwachen, und das Innenthermometer zeigt zwei Grad an, immerhin plus. Nein, Standheizung hat der Bus auch nicht.

Ein VW-Bus, auf dem ein Mann steht, dahinter die Wüste bardenas reales
Stehhöhe gibt’s nur auf dem Bus, das WLAN ist auch in der spanischen Wüste sehr okay

Und dann schaffst du wieder einmal den Limbo unter der Zweimeter-Schranke, die Wohnmobile davon abhalten soll, direkt am Strand bei Lagos oder am Hauptplatz von Sanary-Sur-Mer zu parken. Und es findet sich eine winzige freie Ecke am vollbelegten Campingplatz von Marbella, wo dir nur so die Ohren schlackern bei den fahrenden Palästen, die dort herumstehen. Wenn du Suffizienz lernen willst, hast du beim Reisen dein perfektes Lernumfeld, spätestens dann, wenn du heimkommst und siehst, wie viel Zeugs du kein einziges Mal in die Hand genommen hast. Kluge Menschen schreiben dann auf, was nächstes Mal sicher daheimbleibt. Weniger kluge Menschen wie wir versuchen, uns das zu merken. Meist bleibt’s beim Versuch. Doch es wird insgesamt weniger, ohne dass dann was fehlt: angewandte Suffizienz.

Impact

Der Knackpunkt ist, da hilft kein Leugnen, der ökologische Impact, den wir verursachen. Bei aller Reduktion auf das Notwendige fährt das Auto mit Diesel, und sieben Liter davon auf hundert Kilometer summieren sich dann auch. Wenigstens sind wir seit über fünfzehn Jahren nicht mehr in die Ferien geflogen. Sicher, wir könnten auch mit dem Fahrrad oder zu Fuß verreisen.

Letzteres hat die Gefährtin sogar getan, zwei Wochen Fußmarsch durch Norddeutschland. Aber so richtig weit kommen wir so nicht, nicht mit der freien Zeit, die berufsbedingt begrenzt ist. Freundinnen von uns betreiben ihr Bildungsunternehmen seit etlichen Jahren als digitale Nomadinnen hauptsächlich aus dem Wohnmobil heraus. Geht also auch, ist aber schon wieder eine viel größere Maschine, als wir uns vorstellen wollen.

Campingplatz mit Wohnmobilen im norwegischen Kunes, dahinter das Polarmeer
Es geht immer auch größer. Und das ist nicht immer nötig. Im norwegischen Kunes, dahinter das Polarmeer

Lernen bei Interrail

Das Überschaubare, das Reisen mit möglichst leichtem Gepäck, das haben wir, jeder für sich, seinerzeit bei Interrail gelernt, als die Sommermonate erfüllt waren von ziellosem Vagabundieren auf Europas Eisenbahnnetz. Mit Seesack unterm Kopf im Gepäcknetz des vollgestopften Waggons nach Athen gondeln, in Brüssel ein paar Tage unter dem Klavier eines Konzertpianisten schlafen, von Amsterdam kommend am nächsten Bahnhof von Drogenpolizisten zerlegt werden, sich in Nizza vom Bahnhof weg diritissima ins Meer stürzen. Baba, Hygiene! Servus, Freiheit! Gute Suffizienzschule.

Wir könnten uns auch leidtun

Heute, fünfunddreißig Jahre später, ist davon die Fähigkeit übriggeblieben, Erlebnis und Ausstattung auseinanderzuhalten. Erlebnis, das sind Sonnuntergänge über dem Meer, liegend aus der Heckklappe gesehen. Das ist der erste Kaffee in der Früh aus der Mokka-Schraubkanne. Das ist die Mondlandschaft am Polarmeer, wo zwei Autos pro Stunde als rush hour gelten. Das ist der Regen, der nachts aufs Dach klopft wie ein ganzer Ameisenstaat beim Steptanz. Und natürlich sind das die Menschen, denen wir in der Einfachkeit des Reisens auf Augenhöhe begegnen. Ausstattung, das ist ein Aufstelldach, um aufrecht im Bus stehen zu können. Das sind Standheizung und Klimaanlage, Küchenblock, raffinierte Ausziehladen und ein Vierradantrieb. Ist alles nicht. Wir könnten uns ja leidtun deswegen. Tun wir nicht. Kostet das gleiche Geld. Weil wir unter dem Radar von allem bleiben, was eine große Maschinerie ausmacht. Das ist und das geht ganz leicht. Dabei bleiben wir.

Hier geht’s zu Infos zu Stefan Peters

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