Die Suffizienz des Reisens I: First we take Amstetten

Was geschieht, wenn wir uns weltwärts auf den Weg machen? Wie viel Welt steht uns als Reisenden zu, wieviel ist zu viel? Ist All inclusive noch ein Versprechen oder schon eine Drohung? Über den homo touristicus und andere Zumutungen.

Überfliegen…

Venedig. Barcelona. Hallstatt. Das Nordkap. Vier Sehnsuchtsorte. Sie stehen für Romantik, tosendes Stadtleben, heile Welt, nördlichen Superlativ. Muss man gesehen haben. Sagt Lonely Planet, das Handbuch für alle, die gern im Stau stehen. Vier Reiseziele sind es, die es stellvertretend für unzählige Plätze auf dieser Welt auf die Rote Liste des Overtourism geschafft haben. Wenn Kreuzfahrtschiffe, Flieger und Busse im Minutentakt Tausende Tourist*innen aus aller Welt an einem Ort ausspucken; wenn diese Tausendschaften in Timeslots gepackt Ameisenstraßen durchlaufen, beregnet mit Zahlen, Daten, Fakten, dann mehrheitsfähig abgefüttert, schließlich zurück aufs Schiff, ab ins Hotel oder in die Folkloreshow – dann tickt ein feines Räderwerk seinen Gang und tickt unaufhaltsam eine Must-See-Liste entlang und wir erleben welchen Sehnsuchtsort auch immer im Fast Forward-Modus. Einfädeln, abschwingen, dazwischen Vollgas, wieder eine Stadt gemacht. First we take Amstetten, then we take Hallein.

…und flanieren

Vor langen Jahren hatte ich das große Glück, einige Wochen in Paris leben zu dürfen. Die Wohnung des Bruders einer Freundin war frei, der Bruder sommerfrischebedingt nach Deauville gefahren. Noch dazu konnte ich als Bürodiener eines Verlages einige Francs dazuverdienen und an meinem holprigen Französisch arbeiten. Paris habe ich in dieser Zeit als Flaneur kennengelernt. Wobei ich sagen muss, dass die Zeit nicht reichte, um Sehenswürdigkeiten wie Louvre oder Notre Dame zu besuchen. Das heißt, einmal war ich fast im Louvre, kehrte allerdings angesichts einer hunderte Meter langen Schlange stehenden Fußes um. Flanierte lieber durchs Marais, den Jardin de Luxembourg oder den Markt auf der Rue Daguerre. Dort, und auch beim maghrebinischen Gemüsehändler um die Ecke lernte ich die Stadt und ihre Menschen kennen. Tauchte ein, da und dort, las im Café auf der Place Contrescarpe das Buch, das ich zuvor bei den Bouquinisten am Quai gekauft hatte. In die Stadt hatte mich der Nachtzug aus Wien gebracht, eine wunderbare Verbindung, die alle paar Jahre eingestellt und dann wieder mit Pomp eröffnet wird.

Wozu denn in die Ferne schweifen?

Suffizienz – ein Wort, das ich damals, 1989, nicht kannte – das heißt für mich in dem Fall, einen Teil fürs Ganze zu nehmen. Einzusehen, dass nichts besser wird, bloß, weil ich mir mehr davon einverleibe. Abgesehen davon ist es ohnehin illusorisch, einen Ort, der größer ist als Kikritzpatschen, in ein paar Stunden richtig kennenzulernen. Wozu denn auch? Das Nordkap ist keine Wandernadel und Barcelona kein Schmetterling in einer Vitrine.

Die Gloriette, ein barockes Gebäude im Schlosspark von Schönbrunn in Wien, davor viele Menschen
Braucht auch Zeit: Die Gloriette in Wien über dem Schloss Schönbrunn, dem touristisch erschlossensten Ort Österreichs

Was ist es denn, das uns Plätze, an denen wir nicht daheim sind, abhaken lässt wie einen Einkaufszettel? Eine Art Markierdrang, wie wir ihn aus dem tierischen Revierverhalten kennen? Die unwiderstehliche Anziehungskraft des Staunenmachenden? Vielleicht aber nur  ein schlichter Fall von Herdentrieb, wobei wir uns die Herde als den Nachbarn, die Kollegin vorzustellen haben. Die waren schon dort. Und dort. Und dort auch. Die Reisebuchabteilungen in den großen Buchhandlungen unterliegen gefühlt exponenzieller Ausbreitung. Von Rad- und Wanderkarten über Städte- und Länderführer, Reisetipps für Hund & Katz bis hin zu 111 Plätzen, die man in Tripstrü gesehen haben muss, reicht das Angebot. Das Eigenartige daran ist, dass die meisten dieser Ratgeber für Menschen gedacht sind, die richtig viel Zeit haben zum Entdecken, Wochen, Monate, ein restliches Leben. Den Titel „Rom für Massentouristen in neunzig Minuten“ sucht man vergeblich.

Rede mit den Menschen!

Erleben, das ist etwas, das Zeit braucht. Zeit, um mich einzulassen auf ein Stück Welt, das so ganz anders ist als mein gewohntes Umfeld. Ein Stück Welt, das mir eine Kostprobe gibt von dem, wie es noch sein könnte. Es. Also ich selbst. Um hören zu können, in welchem Rhythmus das Herz hier schlägt, in welchem Takt die Musik spielt, nach der die Menschen hier tanzen, da muss ich schon die Ohren spitzen und genau aufmerken.

Zwei Fischerboote auf einem See in der Morgendämmerung
Braucht auch Zeit: Sitzen, warten, ankommen. Irgendwann geht dann auch die Sonne auf.

Ein lieber Kollege war vor einiger Zeit ein paar Wochen lang in Neuseeland. Viel kam er dabei nicht herum. Wollte er auch nicht. Er wollte eintauchen, kennenlernen, Land, Leute und ihre Kultur verstehen.

Fast food-Reisen, das kann bald einmal wer. Dass davon die Welt ein besserer Ort wird, ein Ort des Einander-Verstehens, das bezweifle ich. Such dir doch lieber ein kleines Stück heraus, lass dich ein, rede mit den Menschen, geh ein paar Schritte in ihrer Geschwindigkeit. Werde eins mit diesem Minimundus, verstehe, dass das kleine Stück genug ist und lass dich davon überraschen, wie dich das verändert.

Hier geht’s zu Infos zu Stefan Peters

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