Wissensarbeitszeit

Wann arbeitet ein Angehöriger der Wissensarbeiterklasse eigentlich, und wann nicht? Wenn Privat das neue Dienstlich ist.

„Ich bin Wissensarbeiter und habe ein Problem.“ „Hallo Wissensarbeiter“, schallt es im Chor aus der Runde.

Halt. Soweit sind wir noch nicht. Also zurück an den Start.

In einem meiner etlichen Jobs (ja, liebe Gewerkschaft, das ist normal heute) bin ich festangestellt, also in einem typischen Arbeitsverhältnis. Und dennoch ist einiges prekär dran. Der eine Fakt, nämlich, dass für eine erwartete Höchstleistung bloß branchentypisch das kollektivvertragliche Mindestgehalt bezahlt wird, sorgt für ebenfalls branchentypische lange Krankenstände in der psychischen Rehabilitation.

Der andere Fakt ist noch problematischer, weil er strukturell für die gesamte Wissensarbeiterklasse gilt. Und da sprechen wir über alle, die beruflich mit der Sammlung, Transformation und Weitergabe von Know How befasst sind. Das ist in unserem Land eine wachsende Anzahl von Unterrichtenden, Beratenden, Kreativen, Angehörigen der Technik- und Wissenschaftsbetriebe, Medienschaffenden und vielen mehr.

All diese Menschen werden dafür bezahlt, Arbeitszeit zu verkaufen. Die ein Teil ihrer Lebenszeit ist. Der Deal – tausche arbeitend verbrachte Lebenszeit gegen Geld und Geldeswert – ist leicht kapierbar. Und wie viele einfache Lösungen funktioniert er nicht. Als Wissensarbeiter schürfe ich Wissen. Ich strukturiere und gebe es in Kursen und Workshops weiter. Sehe mir genau an, was klappt und was nicht. Ersteres mache ich wieder, letzteres fliegt raus oder wird umgebaut.

Die Ideen für den Umbau oder den ganz neuen Ansatz habe ich unter der Dusche, in der U-Bahn, am Sonntag beim Waldspaziergang, bei Frühstücksgesprächen mit meiner Gefährtin. Ja, manchmal sogar während der Arbeitszeit, die aufzuzeichnen ich verpflichtet bin.

Und das ist der Punkt. Wie soll ich die Zeit, in der ich auf Schmierzetteln Ideen festhalte und strukturiere, verrechnen? Bin ich ehrlich und schreibe sie als Arbeitszeit auf, wird mir mein Dienstgeber im besten Fall etwas von „netter Versuch“ erzählen. Verheimliche ich die tatsächliche Arbeitszeit, betrüge ich mich selbst und alle Mitwissensarbeiter.

Das gesetzliche Arbeitszeitmodell kann nicht taugen. Es ist ein Anachronismus, stammt aus einer frühindustriellen Epoche, in der Menschen eine genau abgemessene Zeitlang in der Fabrik arbeiteten. Danach gingen sie heim oder einen heben. Das Fabrikstor trennte sauber und für alle sichtbar Berufliches vom Privaten.

Diese Trennung existiert in unserer westlichen postindustriellen Wissensgesellschaft längst nicht mehr, die Verrechnung der Arbeitsleistung aber folgt stur nach wie vor den Gegebenheiten des vorletzten Jahrhunderts.

In einer Gegenwart, in der die Arbeit einer immer größeren Masse von Wissensarbeitern als Abfolge von ergebnisgetriebenen Projekten definiert wird und die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit vollends verschwimmen, hat ein arbeitsstundenbasiertes Bezahlmodell nichts mehr verloren.

Es ist Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik, schleunigst einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der die Realität abbildet. Denn Ideen, Konzepte und Wissenserwerb außerhalb der Bürozeiten zu unterlassen, ist unrealistisch. Sie zu haben und dafür keine Arbeitszeit zu verrechnen, ist selbstausbeuterisch und unsolidarisch den anderen gegenüber obendrein.

„Ich bin Wissensarbeiter und habe ein Problem.“ „Hallo Wissensarbeiter!“

Stefan Peters

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