Europa und das F-Wort

11.12.2011

In Europa haben wir ein F-Wort, das jenseits des Ordinären steht. Es steht für Führer. Befiehl, wir folgen dir. Ergänzung im Autopiloten-Modus. So weit, so aus der Geschichte erklärbar. Darf nie wieder sein. Darüber sind wir uns einig.

Der letzte ausgewiesene Führer, der auf unserem Kontinent das Sagen hatte, war die Figur des Tyrannen. Zwölf Millionen Tote, die Bilanz im Kurzen. Die Konsequenz aus dem Kollektivtrauma der Macht in den Händen eines Einzelnen ist das paneuropäische Gelöbnis der führerlosen Demokratie, der penibel aufgeteilten Macht, der filettierten Verantwortung.

Wir haben heute ein führerloses Europa. Das sieht man. Die Entscheidungen, die in Politik, Verwaltung, Gesetzgebung getroffen werden, entspringen einer Art Pyramidenspiel, nur ohne Spitze. Gremien sind es, die sich auf Empfehlungen von weiter unten stützen und, sollte sich die eine oder andere Entscheidung als falsch herausstellen, auch berufen. Macht durch viele geteilt ist kollektive Ohnmacht.

Das wird zur Zeit sehr deutlich, wenn wir sehen, dass die EU von strengen Gouvernanten in den US-amerikanischen Ratingagenturen gebeutelt wird, dass nur so die Federn fliegen. Eine Wirtschaftszone unter Kuratel. Das vergrößert das Machvakuum in den Regierungsspitzen und folglich schreit das Volk nach Führern. Die sind willig zur Stelle, um den dämonischen Part zu übernehmen, wie gehabt.

Was wir dabei ausblenden, das sind die Führerfiguren der weisen Könige aus dem Märchen. Eine schillernde Figur der österreichischen Politik, die immer wieder als Benchmark, würde man heute sagen, bemüht wird, ist Bruno Kreisky. Nach heutigen Maßstäben war Kreisky weniger ein Demokrat als der Sonnenkönig, als der er bezeichnet wurde. Ein Führer, der viele einsame Entscheidungen traf. Der, um eine Regierung zu führen, barocke Machtfülle verlangte. Er bekam sie.

Viele dieser Entscheidungen stellten sich hinterher als falsch heraus, noch mehr davon als richtig. Na und? So läuft das Spiel. Er nahm diese Entscheidungen mutig auf seine Kappe. Die richtigen und genauso die falschen. War angreifbar und stand im Telephonbuch.

Auf einem Schiff muss es einen Schiffsführer geben. Das ist gesetzlich so geregelt. Ob mitten auf dem Antlantik oder auf der Alten Donau, spielt keine Rolle. Dessen Anordnungen sind Gesetz. Wird einer davon nicht Folge geleistet, dann erfüllt das den Tatbestand der Meuterei. Der Meuterer wird arrestiert und im nächsten Hafen der Exekutive übergeben. So weit, so klar. Es geht hier um Verantwortung der Mannschaft, dem Schiff, Anderen gegenüber.

Die historische Angst vor dem politischen Führer, die wir in Europa haben, ist eine begründete Angst vor dem Despoten. Und es herrscht gleichzeitig eine unbegründete Angst vor dem weisen König. Der hellen Seite der Macht. Wir haben die Macht kastriert und sie nach dem Gießkannenprinzip aufgeteilt, vergessend, dass die Macht die siamesische Zwillingsschwester der Verantwortung ist. Beschwerden mögen tunlichst beim Salzamt eingereicht werden.

Interessanter Weise gilt dieses Führerverbot wohl für die Politik, nicht aber für die Wirtschaft. Im Gegenteil. Das ist kein Zufall. Wer außer der Politik hätte die Macht gehabt, Rahmenbedingungen zu schaffen, die wirtschaftliche Machtkonglomerate unter der Führung von Einzelnen verhindert? Sie, die Politik, hat es nicht verhindert, weil sie entweder am selben Futtertrog stand wie die Wirtschaftsführer oder weil dort, wo Entscheidungen zu treffen waren, gerade niemand zu Hause war.

Was augenblicklich geschieht, was genau deshalb überhaupt geschehen kann, ist: Moody’s befiehl, wir folgen dir. Europa als Musterschüler. Der Begriff, sattsam bekannt von zu vielen Schlagzeilen, impliziert einen Lehrer. Wer ist dieser Lehrer? Alte Männer in Ratingagenturen? Schneidige junge Broker, die Volkswirtschaften auf den Wühltisch werfen? Totalitär sozialisierte Rotznasen, die ein führungshungriges Volk mit Heilsbotschaften in Dreiwortsätzen anfüttern?

Wie kommt es, dass österreichische und deutsche Ex-Kanzler, sobald sie nicht mehr an der Regierung sind, zu Wirtschaftsführern werden? Ist das Kompensationsgehabe nach einer Zeit als Haremswächter?

Dem Volk oder jedenfalls großen Teilen davon ist es mittlerweile egal, ob es von einem Despoten oder einem weisen König regiert wird. Hauptsache Führer. Das ist verhängnisvoll. Denn es verkleinert die Chancen auf demokratisch legitimierte Macht, Entscheidungen zu treffen.

Ohnmacht aber erzeugt ein Vakuum. Die Natur mag das nicht. Horror vakui. Es wird gefüllt werden, so oder so. Einen Führer zu haben ist eine Chance auf einen weisen König. Keinen zu haben, der Entscheidungen trifft und verantwortet ist keine Chance. So einfach ist das.

Stefan Peters

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